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Etat terroriste

Nicht ohne meine Tochter

Gideon Levy

Montag 15. Mai 2006

Wir trafen uns das erste Mal im Winter 1998 in Bethlehem. Damals war Etaf Alyam aus der Administrativhaft entlassen worden, nachdem sie eine 10jährige Gefängnisstrafe ( für eine in einem Auto angebrachte Sprengladung ) abgesessen hatte. Sie war die lokale Heldin: ihr 40-tägiger Hungerstreik im Gefängnis aus Protest gegen ihre Verhaftung ohne Gerichtsurteil entzündete damals in der ganzen Westbank Proteste. Verschleiert und mit persönlicher Ausstrahlung erzählt sie, die zur palästinensischen „Johanna von Orleans“ ernannt wurde, ihre Geschichte.

Sie war in ihrer Jugend Kommunistin und eine Islamische Jihadaktivistin, als sie älter wurde. Ihr Bruder war 1976 von Soldaten zu Tode geschlagen worden. Ihr Onkel war 1948 erschossen worden und starb in den Armen ihres Vaters im Dorf Hulda, aus dem die Familie vertrieben wurde.. In ihrem schnellen und verdrehten Hebräisch erzählte sie mir mit schwacher Stimme durch den Schleier von ihrem Mann - dem israelischen Gefangenen Hafez Kundus aus Jaffa, der verurteilt worden war, einen Araber aus Jaffa ermordet zu haben, weil er Land an Juden verkauft hatte, das dem Waqf (Muslimischer Besitz) gehörte.

Alyan und Kundus trafen sich nur zweimal in ihrem Leben: einmal bei ihrer Hochzeit, die hinter Gerichtsschranken stattfand und ein zweites Mal, als er vom Gefängnis in Beer Sheva gebracht wurde, um sie von ihrem Hungerstreik abzubringen. ...

Danach trafen wir uns bei mehreren anderen Gelegenheiten. Einmal im gut geführten Kindergarten, den sie im Hof ihres Hauses in Bethlehem aufgebaut hatte. Einmal bei einer von ihr organisierten Ausstellung von Arbeiten von Gefangenen. Sie sagt oft „Mit Gottes Hilfe“ und „Gott sei Dank!“ und sie versprach mir lachend, den Schleier wegzunehmen, wenn ich sie nach Tel Aviv mitnehmen würde.

Jahre vergingen. In dieser Woche saß ich im Büro ihres 2. Mannes, Walid Hodali, der nach 12 Jahren aus einem israelischen Gefängnis entlassen wurde. Ein anderer Gefangene hatte mit Briefen ins Gefängnis die Verbindung hergestellt. Vor zwei ein halb Jahren heirateten sie und vor anderthalb Jahren, als Alyan 41 war, wurde ihre Tochter geboren. Nun ist Alyan wieder im Gefängnis, noch einmal Verwaltungshaft (ohne Gerichtsurteil,) die schon zum 2. Mal verlängert wurde. Dieses Mal nach noch einem Hungerstreik von 16 Tagen wurde ihr das Baby gebracht.
Hodali hat drei Kinder aus einer früheren Verbindung, die er nicht sehen darf, und nun eine Frau und Tochter im Gefängnis, die er auch nicht sehen darf. Nur das Photo mit der 20 Monate alten Ayesha auf dem Computer bleibt ihm.

Hodali sagt, dass sie am Abend ihrer Hochzeit sich einander versprochen haben, in keiner Organisation mehr zu arbeiten, weder bei Jihad noch bei den Islamischen, um nicht noch einmal ihre Freiheit in Gefahr zu bringen. Er arbeitet morgens in den Wasserwerken in Ramallah und nachmittags in den Büros der Beit al-Maqdes, einer Literaturvereinigung, die mit der Bir Zeit Universität verbunden ist. Hoch oben in einem modernen Bürogebäude mitten in Ramallah veröffentlicht diese Vereinigung Dutzende von reizvoll gestalteten Büchern für Kinder und Erwachsene. Jetzt arbeitet man an einer Übersetzung von „Die Herren des Landes: die Siedler und der Staat Israel“ von Idith Zertal und Akiva Eldar.

Hodali, selbst ein Autor, hat schon 7 Bücher veröffentlicht, hauptsächlich über sein Gefängnisleben. Sein augenblickliches Projekt ist ein Buch mit Kurzgeschichten, das er im Namen seiner Tochter Ayesha schreibt. Eine, wie man sich fühlt, wenn die Mutter verhaftet wird; die zweite, wie es ist, wenn man seine Mutter nur durch ein dickes Glas im Gefängnis sieht; die dritte über Mama, deren Haft zum dritten Mal verlängert wird. Alles durch die Augen der kleinen Beobachterin. „Ich möchte fragen: was ist das für ein Haus ohne Mutter?“
So schreibt Hodali. Es sind keine politischen Geschichten.
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Walid verbrachte die Jahre von 1990 - 2002 in einem israelischen Gefängnis. Er ist 46 Jahre alt, wurde im Flüchtlingslager Jalazoun außerhalb von Ramallah geboren. Er studierte Mathematik in Ramallah. Im Gefängnis studierte er noch arabische Literatur. Auch dort schrieb er Bücher.

Sein 14 jähriger Sohn starb an einer Krankheit, während er im Gefängnis war. Er durfte nicht zur Beerdigung. Die drei andern Kinder leben mit der Mutter in Jordanien und sie dürfen die besetzten Gebiete nicht betreten. Und er darf sie nicht besuchen - es sei denn, er verspricht, nicht wieder zurück zu kommen. Nun bleiben nur noch das Telefon und das Internet. Er hat seine Kinder seit 6 Jahren nicht mehr gesehen - seit ihrem einzigen Besuch im Gefängnis in Ashkalon. Zunächst war er mit der Fatah verbunden und später mit der Islamischen Bewegung. Heute gehört er keiner Organisation an. Am Morgen befasst er sich mit Wasser - am Nachmittag mit Literatur. „Man kann für sein Volk auch ohne Risiko arbeiten,“ sagt er

Alyans Ruf verbreitete sich in der Westbank und erreichte auch ihn. Ein freundlicher und scheuer Mann, der etwas verlegen lächelt, als er über die Umstände der 1.Verabredung mit ihr als einer Unbekannten gefragt wurde. Ganz unbekannt waren sie sich nicht: Etaf hatte ihn im Fernsehen gesehen und er hatte sie auch im Fernsehen gesehen - mit Schleier. Ein gemeinsamer Freund und Gefangener brachte sie zu einander. Er dachte, das wäre ein gutes Gespann. Er vermittelte die Briefe - und der Rest ist schon fast Geschichte.
Walid telefonierte ein paar Mal mit Etaf. Sie hatten drei oder vier Gespräche und verliebten sich. Danach wurde sie noch einmal für ein Jahr verhaftet - die Liebe musste warten. Als sie entlassen wurde, gratulierte er ihr. Dann nahm er allen Mut zusammen und fuhr zu ihrem Haus und bat um ihre Hand. Alyan hatte sich zwei Jahre zuvor von Hafez Kundus getrennt und Walid behauptet, sie seien doch nur verlobt und nicht verheiratet gewesen.
Die Familie war mit damit einverstanden. Zwei Tage später heirateten sie und lebten dann zusammen in seiner Wohnung in Ramallah. Alyan eröffnete im Stadtzentrum ein Internet Cafe nur für Frauen. Sie ist noch immer verschleiert, obwohl ihr Mann dagegen ist. Seiner Meinung nach würde es genügen es, wenn eine muslimische Frau ihr Haar und ihren Nacken bedeckt, aber Walid respektiert die Entscheidung seiner Frau. Sie sagt: „ Ich mochte den Schleier seit meinem 18. Lebensjahr, aber ich konnte ihn nicht tragen. Weil es in Bethlehem seltsam gewesen wäre, religiöse Kleidung zu tagen. Leute hätten gefragt, warum ziehst du dich so an. Ich wollte nicht um etwas vor der Zeit kämpfen. Ich konnte zwar keinen Schleier tragen, aber es war in meinem Herzen. Und als ich spürte, nun ist die Zeit da, dann trug ich ihn. Das war im Gefängnis, etwa 1989 oder 1990 und seitdem trag ich ihn.

Am 29. September 2005 etwa ein Jahr nach ihrer Hochzeit wurde Ayesha geboren. Ihr Vater sagt, dass sich nun sein Leben geteilt habe in das, was vor dem 29.September war und was danach geschah, genau wie in Amerika das Leben geteilt wurde in das, was vor dem 11.9. war und was danach. Alyan nahm ihre kleine Tochter jeden Tag mit zur Arbeit; gelegentlich zieht sie den Schleier ihrer Mutter für einen Augenblick beiseite . Er war ein Autor, sie eine Besitzerin eines Cafes. Ayesha wurde geboren. Das Leben war für einen Augenblick freundlich - aber nur für einen Augenblick.

In der Nacht zum 12. Dezember 2005 umgeben Soldaten ihr Haus. Hodali glaubte, die Haustür würde aus den Angeln reißen, so sehr bearbeiteten die Soldaten die Tür. Er war überzeugt, dass sie kamen, um ihn zu holen. Er sagte, jeder, der einmal viele Jahre im Gefängnis war, hat Alpträume, dass sich das wiederholen könnte. Beide hatten Angst davor. Dann betraten Dutzende von männlichen und weiblichen Soldaten das Haus. Als Hodali die Soldatinnen sah, war ihm klar, dass sie kamen, um sie zu verhaften und nicht ihn. „Wir machten immer ein wenig Spaß: sollten sie ihn verhaften, würden sie den Soldaten sagen, dass er keine Verbindung zu irgendwas oder wen hätte und sie sollten doch sie mitnehmen. Aber als es wirklich geschah, betete ich darum, sie sollten mich verhaften - nur nicht sie.“

Ayesha wachte aus ihrem schlaf auf. Ihre Mutter gab ihr einen Kuss und brach in Tränen aus. Alyan bestand darauf, sie mitzunehmen, das Gesetz würde es erlauben. Aber die Soldaten lehnten es ab. So wurde das Baby von der Mutter gerissen. Am nächsten Tag kamen die Nachbarn und boten sich an, das Kind zu versorgen. Aber Hodali bestand darauf, es allein zu versorgen. Während der nächsten Monate hing Ayesha an ihrem Vater - ob er im Wasserwerk war oder ob er sich mit Literatur befasste. Im Gefängnis begann Alyan einen Hungerstreik. Sie verlangte, dass man ihr die Tochter brachte. Nach 16 Tagen gaben die Gefängnisbehörden vom Neve Tirza-Gefängnis nach und Alyans Anwältin brachte Ayesha ins Gefängnis. Hodali sagte, es wäre ihm lieber gewesen, sie wäre bei ihm geblieben, „aber ich konnte ihr gegenüber nicht nein sagen. Hätte ich nach 16 Tagen Hungerstreik nein sagen können?“

Alyan ist nun mit Ayesha in meiste Zeit in ihrer Gefängniszelle. Eine gute Zeit. In der Nachbarzelle ist eine andere palästinensische Mutter mit ihrem Baby. Letzte Woche wurde noch ein Baby von einer Gefangenen im Krankenhaus geboren - die Mutter mit Fesseln an Händen und Füßen. Hodali hat versucht seiner Tochter CD zu senden; aber die Gefängnisbehörde hat es nicht erlaubt. Nur der Anwältin ist es erlaubt, Alyan zu besuchen. Sie war zu sechs Monaten Verwaltungshaft verurteilt worden, die zunächst auf vier Monate verkürzt wurde, dann wieder auf sechs Monate verlängert, dann noch mal auf vier Monate verkürzt wurde. Alles ohne eine Gerichtsverhandlung, ohne Anklage ohne irgend einen Hinweis über die Art der Klage gegen die junge Mutter.

„ aWarum hat man sie verhaftet?“ fragte ich Hodali, der sagte: „Sie müssen irgendeinen geheimen Bericht haben, der sich auf Aussagen einen Kollaborateur gründet, der Geld für Informationen über Leute bekommen hat. Ich bin sicher, dass sie nichts vor mir versteckt und dass sie in keine verbotene Aktivität verwickelt war. Aber es ist leicht Etaf fälschlicherweise wegen ihrer Vergangenheit anzuklagen.“

Ayesha lächelt auch vom Bücherschrank in Hodalis Büro. Als sie vor ein paar Wochen Alyan ins Ofer-Gefängnis brachten - nur 3km von hier entfernt - um über eine verlängerte Verwaltungshaft zu diskutieren, ist er fast verrückt geworden: „Nur drei km von hier entfernt - und ich kann weder meine Tochter noch meine Frau sehen.“ Telefongespräche kommen natürlich nicht in Frage.

„Ich kann nicht verstehen, wie meine Tochter es jetzt im Gefängnis aushält,“ sagt Hodali.
Wie sie ohne Garten träumen kann und wie sie beim Schrei „Abzählen! Abzählen!“ aufwacht und sich dann in Einzelhaft befindet . Ich weiß nicht, wie sie damit fertig wird.“

Alyan und Ayesha sollen in drei Monaten und einer Woche entlassen werden, falls die Verwaltungshaft nicht noch mal verlängert wird. Walid Hodali zählt die Tage.

(dt. Ellen Rohlfs)