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Offener Brief an die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel

Sonntag, 5.März 2006

Mittwoch 8. März 2006

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,

ich wende mich in vierfacher Hinsicht an Sie:

- als französischer Bürger;
- als europäischer Bürger;
- als Bewohner dieser schönen elsässischen Region, über die sich unsere beiden Länder so
lange uneins waren und inzwischen ein Symbol der Versöhnung zwischen beiden Völkern ist;
- als Streiter für die Menschenrechte, der von Gerechtigkeit und Unparteiligkeit überzeugt ist.

Meine Kindheit und Jugend waren in dem gnadenlosen Krieg, dem sich unsere beiden Länder hingaben, von sich wiederholenden tragischen Episoden gekennzeichnet. Diese Wunden begannen erst zu heilen, als ich - mit der Zeit und mit steigendem Interesse - die Art zu schätzen begann, mit der unsere beiden Länder mit kleinen Schritten den Jahrhunderte alten Graben der sie trennte, überwandten. Dies geschah Dank der hohen Qualität von Politikerinnen und Politikern, die ihre persönlichen Gefühle zurücksetzten und dabei oftmals die rigiden Grenzen ihrer Parteien überschritten. Sie setzten sich unaufhörlich dafür ein, dass der sagenumwobene Rhein nicht mehr als ein zauberhafter Fluß sei, der uns an seinen Ufern vereint.

Auch wenn ich meine persönlichen politischen Ansichten oftmals etwas abschwäche, so ist doch meine Bewunderung für die schwierige Aufgabe, die von diesen politischen und in den Geschichtsbüchern bleibenden Persönlichkeiten geleistet wurde, unverändert gleich geblieben.

Als Sie im letzten Jahr zur Bundeskanzlerin gewählt wurden, hörte ich mir ihre ersten Statements an, um mir - auch wenn sich meine politische Auffassung von der Ihren unterscheidet - eine persönliche Meinung über die heikle Aufgabe zu bilden, die sie im Bundestag, dessen politische Mehrheit so fragil ist, zu leisten haben. Gestatten Sie, dass ich mich als französischer Bürger, der der Grenze so nah und im Herzen so europäisch ist, dafür interessiere, was an der höchsten Stelle Ihrer Exekutive geschieht.

Ihr erster Besuch in den Vereinigten Staaten sowie ihre strikte und couragierte Erklärung in Gegenwart von Präsident Bush, die sogar die Existenz von Guantánamo verurteilte, erfüllten mich mit Bewunderung. Infolge vertrat ich die Ansicht, dass die Verteidiger der Menschenrechte und des Internationalen Rechts Ihnen vertrauen könnten und müssten.

Möglicherweise liegt es an einem Informationsmangel meinerseits, aber seit diesem Besuch hörte ich Sie nicht mehr mit derselben Autorität und demselben Mut die täglichen Verletzungen dieser selben Rechte in anderen Gegenden der Welt ansprechen.

Sicherlich leidet Ihr Land - was normal und für niemand ein Geheimnis ist - an dem entsetzlichen Drama, das sich während des Zweiten Weltkriegs auf Ihrem Boden abspielte und mit dem Holocaust in Verbindung gebracht wird. Alle der europäischen Bürgerschaft würdigen Staatsbürger verstehen dieses Gefühl und können bestätigen, dass es mehr als einer Generation bedarf, um diese schmerzlichen Zeichen täglich zu überwinden. Denken Sie andererseits nicht, dass es - parallel dazu und, wie es die Pflicht des Erinnerns verlangt, genauso nachdrücklich - unerlässlich ist, auf dieselbe mutige Art und Weise wie Sie es in Washington getan haben, die andauernde Verletzung des Internationalen Rechts, der Genfer Konventionen, der UNO-Resolutionen und des Sicherheitsrates durch die israelische Armee und Regierung in den widerrechtlich besetzten Palästinensischen Gebieten anzuprangern und für die 9300 palästinensischen Inhaftierten das Recht auf ein faires Verfahren einzufordern?

Durch einen Diskurs dieser Art brächten Sie, ebenso wie Ihre allernächsten Mitarbeiter und Minister, ihrem Volk und den europäischen Bürgern mit ziemlicher Sicherheit etwas mehr Gelassenheit (une bouffée d’oxygène) und könnten ihnen einen hoffnungsvollen Weg aufzeigen, basierend auf Recht und Billigkeit.

Bitte glauben Sie mir, dass es keineswegs meine Absicht ist, dieses Thema zu polemisieren. Die Absicht dieses offenen Briefes ist es, Ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Ich bin der festen Überzeugung, dass Sie in Ihrem Inneren mein Empfinden teilen - trotz Ihrer Pflicht zu unerlässlicher Ausgeglichenheit in der Einschätzung unterschiedlicher Konstellationen und in Ihren öffentlichen Äußerungen; einer Pflicht, das Rechte zu sagen und alles dafür zu tun, dass dies zur selbstverständlichen und unumkehrbaren Regel für eine gute und gerechte Regierung wird.

Außerhalb von diesem Recht kann es nur Argumente für diejenigen geben, die Uneinigkeit anstreben oder Barrieren errichten. Dieses Recht ist die eigentliche Grundlage unserer Gemeinschaften. Jedes Land ist verpflichtet dafür zu sorgen, dass es respektiert und angewandt wird. Gegenüber diesem Recht, das von solchen Kräften geprägt wurde, die eines Tages Europa repräsentieren, hat kein Argument Bestand.

In unserer Zeit, in der die Rolle der Frau - in der Politik ebenso wie in jeder anderen Wissenschaft - endlich immer wichtiger wird, wünsche ich mir, dass Sie, Frau Bundeskanzlerin, in der Reihe Ihrer Vorgänger der „europäischen Gründerväter“, diejenige sein werden, die, im Namen des Rechts, allen europäischen Bürgern das Wohlgefallen zurückgibt, einer Gemeinschaft anzugehören, in der man an einem Spiegel vorbeigehen kann, ohne sich abwenden zu müssen.

Mit den allerbesten Grüßen

Michel Flament
flament@evc.net
Srasburg.
Frankreich