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Interpellation d’Angela Merkel par deux citoyens indignés (ndlr)

Zwei offener Briefe an die deutsche Bundeskanzlerin

von Günter Schenk und von Dr. Meir Margalit

Dienstag 22. April 2008

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,

schon oft habe ich, 1940 geboren und von meinen Eltern zu Gerechtigkeit, Pflichterfüllung und Nächstenliebe erzogen, an Sie geschrieben. Ich weiß nicht, in welchem Vorzimmer meine Briefe abgefangen, verworfen oder beiseite gelegt wurden. Meine Motivation war zu allen Zeiten die Erfüllung der Pflichten, die ich durch meine Erziehung vermittelt bekam. Dazu gehörte schon früh und vor vielem Anderen Trauer und Respekt vor den Opfertoten des Nazi-Reiches, auch den Juden. Als ich jedoch später, mit den Nachrichten aus der Welt und mit gleichaltrigen Menschen aus dem Nahen Osten konfrontiert, wurde ich der Ungerechtigkeit, die mit der Gründung des jüdischen Staates - und in verstärktem Maße dann durch die andauernde Besatzung von Restpalästina - dem palästinensischem Volk widerfahren war und weiter widerfuhr, bewusst. Es wurde für mich mit der Zeit immer unerträglicher, wie deutsche Politik, auch die Mehrzahl der großen deutschen Medien diesem Leid gegenüber in Gleichgültigkeit, bis hin zu Mittäterschaft, verharrten.

Sie haben dem Ganzen mit Ihrer Reise nach Jerusalem die Krone aufgesetzt. Dafür hatte ihnen die ganz große Mehrzahl unseres Volkes keine Vollmacht gegeben. Sie gaben an, als Freund nach Israel zu reisen, in der Tat wurden Sie jedoch durch Ihre Nichtachtung von Opfern Mittäterin. Eine deutsche Bundeskanzlerin des beginnenden 21. Jahrhunderts eine Mittäterin? Das war dann doch zu viel und nicht nur mir, auch sehr vielen meiner Freunde in Deutschland, Frankreich (wo ich mit meiner französischen Ehefrau und gemeinsamen 4 Söhnen lebe), in England, den USA und in Israel (!) versagte zunächst die Stimme.

Und nun erscheint in der führenden deutschen Tageszeitung ein - nein, kein Leitartikel, keine Kolumne, sondern - die großformatige bezahlte Anzeige (warum, so sei die Zeitung gefragt, nicht als Artikel, warum zeitverschoben als bezahlte Anzeige) eines aufrechten jüdisch-israelischen Patrioten, der die Dinge, die uns alle denen Gerechtigkeit und Verständigung zwischen den Völkern am Herzen liegt, beim Namen nennt! Diesen Artikel, das war heute morgen, als ich die Zeitung aufschlug mein erster Gedanke, können Sie sich hinter den Spiegel stecken. Jeden Tag wird Ihnen dann ab heute schon bei der Morgentoilette Ihre Pflicht als Bundeskanzlerin vor Augen geführt.

Was wird dies bewirken, so frage ich mich. Wird es Sie zu Umkehr veranlassen? Werden Sie Ihr Herz und Ihren Verstand für jene öffnen, die Sie, auf beiden Seiten der Apartheids-Mauer, während Ihrer Reise nach Palästina so schändlich verraten haben? Werden Sie Außenminister Steinmeier um Schadenbegrenzung bitten? Es wäre ein Glücksfall. Ein Glücksfall für die Opfer der Opfer (die ersten Opfer der Nazis, so schrieb der große britische Schauspieler Sir Peter Ustinov, waren die Juden, die letzten Opfer sind die Palästinenser) - wodurch wiederum für die Ersten, durch eine von Ihnen mitgetragenen Unrechtspolitik ihrer Regierungen zu Opfern werden, das zu verlieren drohen, was jedes Gemeinwesen zusammen hält: ethische Grundsätze zur Regelung menschlicher Probleme.

Bitte lesen Sie das, was Ihnen Dr. Margalit ins Stammbuch schreibt gründlich durch. Bitte kehren Sie, sehr geehrte Bundeskanzlerin, um und ändern Sie ihre Palästina-Politik. Es wird, wie Dr. Margalit schreibt, nicht einfach für Sie sein, Sie werden Kritik und Schimpf ertragen müssen aber: keine Schande! So kann deutsche Politik endlich das Vermächtnis einlösen, welches uns allen das 20. Jahrhundert hinterlassen hat: Nie wieder Unrecht tatenlos zusehen, wenn es mit unserer Unterstützung und Tolerierung irgendwo in der Welt geschieht.

Und, zuletzt: bedanken Sie sich bitte beim Autor Herrn Dr. Meir Margalit dafür, Sie an Ihre Pflicht als Bundeskanzlerin aller Deutschen erinnert zu haben.

Herzliche Grüße
Günter Schenk
5, rue des cigognes
F-67930 Beinheim
- Collectif judéo-arabe et citoyen pour la paix, Strasbourg
- Coordination de l’Appel de Strasbourg pour une paix juste au Proche-Orient
http://www.eutopic.lautre.net/coordination/

Kopien an den Außenminister der Bundesrepublik Deutschland,
den Repräsentanten der Palästinensischen Autorität in Berlin,
den Botschafter Israels in Berlin,
die Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

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Hier der Text der Anzeige (sic!) Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. 8:

Offener Brief von Dr. Meir Margalit, israelischer Historiker, an Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich ihrer Reden und ihre (Nichts-)Tuns auf der Israel-Reise

Mittwoch, 26. März 2008

Sehr geehrte Frau Merkel,

schon seit langem hat man in Israel keine Reden gehört, die solchen zionistischen Pathos hatten wie die Reden, die Sie bei Ihrem Besuch in Israel vor einer Woche gehalten haben. Sie haben es während Ihres dreitägigen Besuchs sehr klar gemacht, wie sehr Sie den Staat Israel unterstützen und gegen seine Feinde an seiner Seite stehen. Acht Minister, unzählige Regierungsangestellte und Sicherheitskräfte haben Sie mitgenommen, um mit großem Aufwand bei Ihren Gastgebern einen guten Eindruck zu hinterlassen.

Trotz des Obengenannten muss ich Sie jedoch, mit allem Respekt, darauf hinwiesen, dass Sie uns keine gute Tat erwiesen haben:

Wenn sie nämlich wirklich nur Israels Wohl im Sinne gehabt hätten, dann hätten Sie die Palästinenserfrage zumindest erwähnt. Statt dessen taten Sie so, als ob es sie überhaupt nicht gäbe. Sie hätten mit klaren Worten erwähnen müssen, dass die israelische Besetzung der Palästinensergebiete unmenschlich ist und enden muss, dass Israel die besetzten Gebiete räumen, die Siedlungen auflösen und die Belagerung des Gazastreifens beenden muss.

Wenn Sie nämlich wirklich nur Israels Wohl im Sinne gehabt hätten, dann hätten Sie Abu Mazen zumindest einen Besuch abstatten sollen und sich mit dem palästinensischen Kapmf um Unabhängigkeit solidarisch zeigen sollen. Wenn Sie wirklich an der Seite Israels gegen seine Feinde stehen wollten, dann hätten Sie zuallererst den Staat5 Israel selbst kritisiert.

Die größte Gefahr, die Israel zu fürchten hat, ist nämlich ironischerweise nicht Iran, sondern Israel selbst.

Seit 1967 betreibt der Staat Israel nämlich ein System der Selbstvernichtung. Jeder, der sich um das Wohl des Staates Israel bemüht, muss ihm helfen, dieses System zu beenden. Ich bin mir sicher, dass Sie gebildet genug sind, das zu wissen. Auch weiß ich, dass das Schuldbewusstsein des deutschen Volkes Ihnen nicht die Möglichkeit gestattet, den jüdischen Staat offen zu kritisieren. Zudem kann angenommen werden, dass in einem solchen Fall israelische Politiker Ihnen vorgeworfen hätten, eine Antisemitin zu sein.

Trotzdem sollten Sie sich nicht davon abbringen lassen, denn der wirkliche Antisemit ist der, der angesichts der Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten schweigt, da es jedem klar ist, dass die Fortsetzung der Besetzung das Ende des Staates Israels auf sich ziehen wird. Und falls man Ihnen vorwirft, ein Antisemit zu sein, können Sie ja Ehud Olmert selbst zitieren, der vor drei Monaten sagte, dass, wenn die Besatzung nicht beendet wird, wird der Staat Israel beendet werden.

Ich würde Sie gerne darauf hinweisen, Frau Merkel, dass die Mehrheit der Israelis eingestehen, dass die Besatzung unertragbar ist und uns nicht weniger Schaden zufügt als den Palästinensern. Jedoch fehlt der israelischen Regierung die Kraft, die einzige Operation durchzuführen, die unser Leben retten kann: Die Entfernung des Tumors, der sich “[besetzte] Gebiete” nennt. Durch diesen Tumor bluten wir ununterbrochen, und er macht uns von Tag zu Tag schwächer.

Und daher brauchen wir keine Solidaritätsbekundigungen und auch keine prozionistischen Reden, sondern internationalen Druck, der die Besetzung beenden kann. Alleine schaffen wir das nämlich nicht. Jedoch mit Hilfe unserer europäischen Freunde gibt es eine Chance, Ruhe und Frieden für beide Völker zu erreichen.

Zum Schluss würde ich Sie gerne darauf hinweisen, dass ich zwar kein Moralist bin, aber dennoch denke, dass Sie eine der wichtigsten moralischen Lektionen des Zweiten Weltkrieges vergessen haben: Nämlich, dass man bei Menschenrechtsverletzungen nicht schweigen darf, und dass man gegen jedes Regime, das ein anderes Volk unterdrückt, kämpfen muss. Heute sind wir leider die Unterdrücker. Es ist daher Ihre Aufgabe, mit lauter Stimme zu sagen, dass das 21. Jahrhundert keinen Platz für Besatzungsmächte und Unterdrücker hat, und dass jedes Volk ein Recht auf Selbstbestimmung hat.

Israel bruacht diesen Druck um seiner selbst willen. Wer Israel liebt, muss Druck ausüben, bis die Besetzung beendet ist.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Meir Margalit, Historiker
Aktivist der israelischen Friedensbewegung und ehemaliges Stadtratsmitglied
Von Jerusalem von der Meretz-Partei

(Übersetzt aus dem Hebräischen von Benjamin Rosendahl)

Mehr zu Meir Margalit finden Sie hier: http://www.justvision.org/en/profile/meir_margalit