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Lettre ouverte d’un citoyen allemand à l’ambassadeur en Israël de la République Fédérale d’Allemagne

Offener Brief an den Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Israel

Sonntag 9. Januar 2005

Offener Brief an den Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Israel

Sehr geehrte Exzellenz,
lieber Genosse,
sehr geehrter Herr Botschafter Dressler,

ich las Ihren in meiner israelischen Lieblingszeitung Haaretz veroeffentlichen Artikel - eine Art Conclusio Ihrer vierjaehrigen Taetigkeit als Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Tel Aviv. Zunaechst frage ich mich: was haben Sie in den vier Jahren in Israel, ausgestattet mit einem gueltigen Diplomatenpass, der Ihnen jederzeit Zugang zu jedem oeffentlich zugaenglichen Ort in und um Israel gewaehrte, getan ? Haben Sie tatsaechlich Ihre Augen verschlossen, als Ihr Chauffeur Sie in Ihrem gepanzerten Dienstwagen an den Checkpoints vorbeifuhr, ueber km-lange neue Strassen, „nur fuer Juden“ in den besetzten Gebieten ?

Haben Sie wirklich nichts gehoert, gelesen ueber die Enteignungen, Haeuserzerstoerungen, mutwillige Vernichtung jahrhundertealter Olivenhaine und geschuetzter Baudenkmaeler ? Haben Sie in diesen ehren- wie wertvollsten Jahren in einem Diplomatenleben niemals Kontakt aufgenommen zu den kleinen aber umso feineren Gruppen kritischer israelischer Intellektueller, die eine so vollkommen andere Sicht haben auf ihren eigenen Staat ? Kennen Sie diese Gruppen vielleicht garnicht ? Das waere eine schwerwiegende Unterlassung Ihrer Mitarbeiter, deren Aufgaben sich gewiss nicht auf die Vor- und Nachbetreuung von Besuchern von Yad Vashem, so wichtig diese sind, geschraenken.

Auch ich, grosso Modo mit der Ihren aehnlichen zeitlichen und geschichtlichen Erfahrung, aufgewachsen in einer Atmosphaere der kritischen Auseinandersetzung mit dem Nazi-Regime, seiner Bedingungen und Verbrechen, habe mir zeitlebens die Frage gestellt: "Wie fast ein ganzes Volk derart blindlings einem Verbrecherregime (es war ja nun nicht nur ein einziger Mann, ganz oben!) verfallen konnte. Diese Frage trennt uns gewiss nicht.
Inzwischen weiss ich allerdings darueber mehr, weiss, z.B., wie aus dem grossen, freiheitsliebenden amerikanischen Volk schleichend und zielstrebend ein bellezistisches, sich traumatisch in Lebensgefahr fuehlendes Volk gemacht wurde, weiss, wie teufliche Propaganda wirken kann. Goebbels Schueler lassen gruessen ! Sie leben. Davor ist leider auch die Demokratie nicht gefeit.

Was uns aber sicherlich trennt, ist die Verantwortung die wir aus diesem Jahrhundert-, wenn nicht Jahrtausend-Desaster des sogenannten 3. Reiches fuer uns selbst und fuer unser Land, das ganze deutsche Volk, erkennen.
So steht fuer mich ausser Zweifel, dass aufgrund des von „unseren Vaetern“ begangenen Unrechts auf gar keinen Fall neues Unrecht an Anderen, an mit den
Untaten unseres Volkes und seiner verbrecherischen Regierung Unbeteiligten ausgehen darf. Da scheinen sich unsere Geister nun wirklich zu scheiden. Dies sage ich Ihnen als Mitglied, seit dem Jahr 1966, der gleichen Partei, der auch Sie angehoeren.

Gerade dies aber scheinen Sie nicht nur zu akzeptieren, nein, Sie unterstuetzen gerade dies und machen sich - so muss ich dies sehen - erneut schuldig,
schuldig an dem Volk der Palaestinenser. Weiter unten gehe ich darauf im Einzelnen ein.

Ihre historischen Kenntnisse muessen dies auch Ihnen sagen, obwohl Ihr Artikel in Haaretz leider keinerlei Vorkenntnis oder Sensibilitaet fuer die Vorgeschichte, die Entstehung und den offensichtlich noch nicht abgeschlossenen Vorgang der Staatsbildung - keine Verfassung, keine deklarierten Staatsgrenzen, einmalig fuer ein Mitglied der Vereinten Nationen !!! - Israels erkennen lassen.

Stattdessen beten Sie, wie aus Communiques des Presseamtes der Regierung abgeschrieben, die angebliche Bedrohung, den andauernden Ueberlebenskampf des Staates nach, eines Staates mit der zweit- oder drittstaerksten Armee der Welt, mit Atomwaffen, Traegersystemen aus dem Land, der Luft und dem Wasser (3 U-Boote der Delphin-Klasse aus Kiel mit Abschussvorrichtung fuer taktische Atomwaffen), eines Staates, der im Jahre minus 1 vor der Staatsgruendung nicht zurueckgeschreckt ist, biologische Waffen zur Eroberung einer der schoensten nah-oestlichen Staedte in der Levante, Akko, einzusetzen.

Nein, dies koennen Sie eigentlich nur sagen, wenn Sie sich mit Scheuklappen versehen haben: dass der Staat Israel von seinen Nachbarn bedroht ist. Schon gar nicht aus den militaerisch besetzten und entgegen dem Voelkerrecht zielstrebig besiedelten - und in den Jahren Ihrer Taetigkeit zerstueckelten - Rest-Palaestina.
Wenn es eine ernstzunehmende Gefaehrdung fuer den Staat Israel gibt, so kommt diese aus dem Inneren des Staates, aus der Immoralitaet der Besatzung, aus Mangel an Legitimitaet (worauf schon kurz nach 1967 Y. Leibwoitz hinwies), aus der moralischen Zerruettung einer entfesselten, militarisierten Jugend. Es sind nicht die Palaestinenser, die Israel in seinen Grundfesten gefaehrden. Alles, was die Palaestinenser verzweifelt - und systematisch von der Regierung, bei der Sie akkredidiert sind hintertrieben - suchen, ist ihr eigener kleiner Staat, auf einem Bruchteil des Gebietes, welches noch zu meiner fruehen Kindheit „Palaestina“ hiess.

Fuer Sie beginnt die unertraegliche Gewalt vier Wochen nach Ihrer Ankunft in Tel Aviv. Sicher, niemand wird Ihnen veruebeln, wenn Sie in den ersten Wochen
in wichtiger und schwieriger Mission Einarbeitszeit benoetigten, aber, Sie wissen genau wie jeder Interessierte, was der 2. Intifada vorausging, die nicht umsonst
„Al-Aksa-Intifada“ genannt wird. Sie wissen genau, mussten es wissen, welche Enttaeuschung durch alle Schichten der palaestinensischen Gesellschaft
ging, als klar wurde, dass die hoffnungfvollen Jahre des „Oslo-Prozesses“ von israelischen Seite genutzt worden war, eine Vervielfachung der Zahl der
Siedler, entgegen dem internationalen Recht, in den besetzten Gebieten vorzunehmen. Hier machten sich gerade auch fuehrende Politker der uns so vertrauten
und mit uns befreundeten Arbeitspartei schuldig.

Was das Widerstandsrecht und den tatsaechlich ausgeuebten Widerstand der Palaestinenser angeht: hier sollten Sie sich keine voreilige Kritik erlauben, schliesslich waren es SS- und Gestapo-Schaergen, die den Widerstand in Polen, in Frankreich (der Grossvater meiner frz. Ehefrau war direkt betroffen) als terroristisch verfolgten, den strukturellen Terrorismus ihrer eigenen Anwesenheit als deutsche Besatzer nicht erkennend.

In Ihrem Artikel stellen Sie, rhetorisch, die Frage, „was Deutschland tun wuerde, wenn ... Erfurt 2002 usw.“. Nahezu wortgleich las ich dies in einer Presseerklaerung der israelischen Botschaft in Berlin. Das ist eine für einen politisch denkenden und aufgeklaerten Menschen unverstaendliche Verdrehung. Viel mehr muessten Sie (sich und Ihre Leser) fragen:

Wie saehe die deutsche Gesellschaft aus, wenn die Bundesrepublik ihre Existenz auf dem Boden und Eigentum eines anderen Volkes aufgebaut haette ?
Wie saehe die deutsche Gesellschaft aus, wenn der Staats-Neugruendung die Massenvertreibung, vielfacher Mord und Mordandrohung, Enteignung von Hab und Gut, Zerstoerung hunderter Doerfer vorausgegangen waere ? (Der Begriff NAKBA duerfte Ihnen nicht unbekannt sein)
Wie saehe die deutsche Gesellschaft aus, wenn dies nicht nur vor und waehrend der Staatsgruendung geschehen wäre, sondern fortlaufend geschieht ?
Wie saehe die deutsche Gesellschaft aus, wenn die Bundesrepublik Deutschland fortwaehrend militaerische Besatzung über ihren Nachbarn ausuebte ?
Wie saehe die deutsche Gesellschaft aus, wenn deutsche Waffen, Flugzeuge, Soldaten taeglich gezielte und weniger gezielte Toetungen im Besatzungsgebiet
durchfuehrte ?

Wie saehe sie aus und mit welcher Reaktion ihrer Opfer muesste „die deutsche Gesellschaft“ rechnen, wenn.....?

All diese Fragen stellt sich Ihre Exzellenz, Herr Botschafter nicht. Sie, beten, „Asche auf Ihrem Haupte“, schuldbeladen, (sind Sie das denn wirklich? das stimmt doch nicht, das ist doch nicht wahr) in liebedienerischer Weise, die Propaganda des Besatzers nach. Daraus entsteht kein gegenseitiger Respekt.

Darf das ein deutscher Botschafter ? Er darf das gerade darum gewiss nicht, weil es zwischen 1939 und 1945 Deutsche waren, die genau so, wie oben
beschrieben, mit den Nachbarn (und dem eigenen Volke) umgingen, die Menschen dieser Laender, und die ganze Welt, damit in ein nie dagewesenes Elend stuerzte und in Konsequenz die Existenz des eigenen Volkes und Staates gefaehrdete bis zum voelligen Zusammenbruch.

Für mich bleibt, nach Lektuere Ihres Berichtes in Haaretz, folgend Feststellung:

Der Genosse Dressler hat die vier Jahre seiner Taetigkeit nicht dazu genutzt, sich in der israelischen Zivilgesellschaft umzusehen nach den Kraeften, die all dies als unverzeihliches Unrecht ansehen. Als Unrecht gegenueber den verfolgten.entrechteten und erniedrigten Palaestinensern und als Unrecht gegen die eigenen Buerger, die missbraucht und verfuehrt durch eine angeblich dauerhaft vorhandene Unsicherheit und Bedrohung sich veranlasst sehen, das vom eigenen Staat begangene Unrecht umzumuenzen „als ihr gutes Recht“. Der Botschafter Dressler hat seine Aufgabe nicht darin gesehen, die Freunde aufmerksam zu machen
auf das, was nach eigener deutscher Erfahrung als gefaehrlicher Irrweg angesehen werden muss. Er hat damit weder seinem Entsendestaat noch seinem Gastland, am wenigsten dem juedischen Volk, einen Dienst erwiesen. Besonders ihm und seinem Wohlergehen muessen sich Deutsche nach dem Geschehenen verpflichtet fuehlen, am besten bei uns in Deutschland, ohne Schaden fuer Andere.

Herzlichen Grruesse, verbunden mit guten Wuenschen fuer das Jahr 2005 und Ihre hoffentlich friedenstiftende Taetigkeit
zum Wohle unserer beiden Voelker und zum Segen der Palaestinenser

Guenter Schenk
Beinheim, Frankreich
(membre du „Collectif Judeo-arab et citoyen pour la Paix Strasbourg“)