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Von Khan Yunis aus kann man keine Siedler sehen

Gideon Levy, 9.1.05 (Haaretz)

Sonntag 9. Januar 2005

Von Khan Yunis aus kann man keine Siedler sehen

Gideon Levy, 9.1.05 (Haaretz)

Von Khan Younis aus könnte man denken, dass der Trennungsplan bereits stattgefunden hat; denn von hier sieht man keine Siedler und Siedlungen. Wenn in der Westbank von jedem palästinensischen Haus aus rote Dächer und Wassertürme sichtbar sind, so sind hier im Zentrum des Gazastreifens nur Wachtürme, Tarnnetze und Betonmauern zu sehen. Die Siedler, die Siedlungen und die Soldaten sind alle auf der anderen Seite der weiten, „gesäuberten“ Flächen, hinter befestigten Stellungen, Betonmauern, Panzern und Zäunen.

Selbst der Soldat am bekannten Abu Huli-Checkpoint, der die Hauptstraße von Gaza nach Khan Yunis trennt, ist unsichtbar, wenn er seine Befehle den palästinensischen Fahrern erteilt. Nur seine Stimme wird durch den krächzenden Lautsprecher von hoch oben im Turm gehört, der die Straße beherrscht; die unterwürfigen Fahrer versuchen dann schnell zu gehorchen.
Als früher Siedlerfahrzeuge die Kreuzung passierten, wussten die Palästinenser, dass sie mit einer Verzögerung von Stunden rechnen mussten. Jetzt überqueren die Siedler auf einer Brücke versteckt hinter Betonmauern die Straße, während die Palästinenser unten auf der Straße fahren oder daran gehindert werden, nur wissen sie nicht warum.

Die unsichtbare Besatzung ist zuweilen grausamer als die offene Besatzung, die sich an den Checkpoints der Westbank manifestiert. In Gaza nehmen die Soldaten und Siedler keine menschliche Gestalt an; sie sind gesichts- und körperlos ; nur Stimmen, die Befehle bellen, Bulldozer, die zerstören und Siedlungen, die wie Festungen aussehen.
In Khan Yunis muss man nicht auf die Siedler warten, dass sie ihre Drohungen, sich den Regierungsentscheidungen mit Gewalt zu widersetzen, durchführen, um zu dem Schluss zu kommen, dass die israelische Demokratie beschädigt worden ist.
Die reine Gegenwart der Siedlungen wie Ganei Tal und Neveh Dekalim, die in den Medien als blühende Gemeinschaften mit Kindergarten, Synagogen, üppigen Feldern dargestellt werden und die nun die Erfahrung einer ernsten Notlage machen, belegen die Existenz der Apartheid. Auf der einen Seite lebt eine Minderheit im Überfluss und diktiert der Majorität drum herum wie sie mit der die Minderheit schützenden Militärgewalt zu leben hat und die gleichzeitig die vollkommene Trennung aufrecht erhält. Auf der anderen Seite gegenüber den erschreckenden Wachtürmen, die rund um die beiden Siedlungen stehen, ist das Flüchtlingslager von Khan Yunis mit Straßen aus Sand und Schlamm, ein Ort, den die meisten Israelis noch nicht gesehen haben.
Die Angriffe auf die Siedler werden als mörderischer Terror beschrieben, der aus einem Vakuum kommt, die Folge eines angeblichen blutdurstigen Charakters; aber das tägliche Leid, das die Siedler den Palästinensern zufügen, wird nicht gezeigt. Das Khan Yunis- Flüchtlingslager trauert nun um seine getöteten Söhne und seine zerstörten Häuser. Keiner hier spricht über den Trennungsplan oder über die heute stattfindende Wahl. Hier sind alle mit dem grausamen Kampf des nackten Überlebens beschäftigt. An jeder Ecke des Lager können Trauerzelte gesehen werden und an den Mauern jeden Tag neue Gedenkposter der Getöteten. Eines zeigt das Gesicht von Ahmed Touman, 17, der an Downsyndrom litt und vor ein paar Tagen getötet wurde. Der Krankenhausbericht stellt fest, dass Kugeln in seinem Kopf, Herz und zwischen den Rippen gefunden wurden, außerdem Metallteile in seinem Bein und in der Hüfte. Der IDF-Sprecher bestätigte, dass Warnschüsse auf seine Beine abgegeben wurden.
In den schlammigen Gassen stochern verschreckte Kinder in den neuen Ruinen herum. Jeder Regen verwandelt das Lager in einen großen Morast und mit den niedergerissenen Häusern sieht der Ort wie ein Katastrophengebiet aus. Einen großen Teil des Leids haben die Bewohner der Existenz der Siedlungen zu verdanken, die sie vom Westen her schwer bedrängen und sie ihres Landes beraubten. Und wenn aus dieser ( bedrückenden) Situation heraus jemand auf die Siedlung schießt, reagiert die Armee unverhältnismäßig und verursacht Leid bei Tausenden von unschuldigen Leuten.
Aber haben wir das Recht nur die Gegenwart zu berücksichtigen und die Vergangenheit zu vergessen, die sie in diese elende Existenz gebracht hat? Sollte diese Vergangenheit nicht wenigstens den Wunsch nach Versöhnung/ Wiedergutmachung wecken?

Jede Familie trägt die Erinnerung an ein anderes Leben in sich: an die Straßen in Majdal und die Felder von Isdad, an die Obstbaumhaine von Kastina und die Ländereien von Faluja - 45 Städte und Dörfer nördlich des Gazastreifens gingen für sie verloren und wurden zerstört. Jeder, dessen Haus jetzt von IDF-Bulldozern zerstört wurde, ist ein Kind einer Familie, die einmal eine ähnliche Situation durchgemacht hat. Es geht kaum ein Tag hier vorüber, ohne dass Operationen des Zerstörens und Einebnens geschehen. Nur das silberne Meer der Gewächshäuser der Siedlungen bleibt unberührt. In ihren Feldern, die an das Flüchtlingslager angrenzen, erscheint eine andere hässliche Seite der neuen Kolonisten: 35-48 NIS pro Tag, die eine Handvoll Arbeiter von Khan Yunis verdienen - ein Privileg, auf den Parzellen Land zu arbeiten, wo die Siedler Gewürze für den Export anbauen.
In Gush Kativ hat man noch nichts von einem Minimumlohn oder von Gerechtigkeit gehört.
Man kann kaum mit Worten beschreiben, wie das Lager in Khan Yunis aussieht. Das Lager erreicht das Bewusstsein der Israelis nur über Racheoperationen wie „Purpur-Eisen“ oder „Herbstwind“. Wenige fragen, welche Sünde diese Leute begangen haben. Der einzige Wunsch, den die meisten dieser Leute haben, wenigstens unter menschlichen Bedingungen zu leben. Sie leiden vor allem unter der Besatzung, die sich hier durch die Siedlungen äußert. Von Khan Yunis aus scheint das Ende der Besatzung tatsächlich noch sehr weit entfernt zu sein.
Da die Siedler „moralische Bedenken“ gegen die „Evakuierung von Juden von ihrem Land“ haben , sollten wir daran denken, wie das Leben in Khan Yunis aussieht, wessen Land es ist, wer die wirklichen Opfer sind, und wie all dies Leiden die lokale Bevölkerung fertig macht.

(dt. Ellen Rohlfs)