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Für Wahrheit und Versöhnung, Gleichheit und Partnerschaft

Das Olga-Dokument

Dienstag 4. Januar 2005

Im vergangenen Sommer haben sich israelische antikolonialistische Aktivisten und Intellektuelle zusammengesetzt, um in einem grundlegenden Dokument festzuhalten, was zur friedlichen und gerechten Lösung des Konflikts aus ihrer Sicht notwendig wäre. Das Treffen fand in Givat Olga statt, daher der Name des Manifests, das inzwischen von einer großen Zahl namhafter israelischer Persönlichkeiten unterschrieben worden ist - selbstverständlich jedoch nicht von jenen Vetretern der israelischen Linken und Friedensbewegung, die nichts weiter als einen Deal mit gewissen von ihnen auserkorenen, „kompromissbereiten“ palästinensischen Partnern anstreben.

Anat Biletzki, André Draznin, Haim Hanegbi, Yehudith Harel, Michel (MiKado) Warschawski, Oren Medicks:

Für Wahrheit und Versöhnung, Gleichheit und Partnerschaft

Der Staat Israel hatte eigentlich Juden Sicherheit bieten sollen; er hat eine Todesfalle hervorgebracht, deren Bewohner in ständiger Gefahr leben, wie es auf keine andere jüdische Gemeinde zutrifft.
Der Staat Israel hatte eigentlich die Mauern des Ghettos abreißen sollen; er errichtet jetzt das größte Ghetto in der gesamten Geschichte der Juden.
Der Staat Israel hatte eigentlich eine Demokratie sein sollen; er hat eine koloniale Struktur etabliert, die unübersehbar Züge der Apartheid mit der Willkür einer brutalen militärischen Besatzung kombiniert.
Israel ist im Jahr 2004 ein Staat auf dem Weg ins Nirgendwo. Sechsundfünfzig Jahre nach seiner Gründung sind viele seiner Bürger - trotz seiner zahlreichen Errungenschaften in der Landwirtschaft, der Wissenschaft und Technologie und ungeachtet der Tatsache, dass es eine gewaltige Militärmacht in der Region ist, ausgestattet mit einer Weltuntergangsbewaffnung - krank vor existentiellen Sorgen und Angst um ihre Zukunft. Seit seiner Gründung hat Israel von seinem Schwert gelebt. Eine unablässige Folge von Vergeltungsschlägen, Militäroperationen und Kriegen ist die lebenserhaltende Droge israelischer Juden geworden. Und nun, beinahe vier Jahre nach Beginn der zweiten Intifada der Palästinenser, steckt Israel bis zum Hals im Sumpf von Besatzung und Unterdrückung, während es fortfährt, die Siedlungen auszudehnen, deren Außenposten zu vervielfältigen und sich selbst bis zum Überdruss einredet, dass „wir keinen Partner für den Freiden haben“.

Zehn Jahre nach den Oslo-Vereinbarungen leben wir in einer rückständigen kolonialen Realität, in tiefer Finsterniss. Siebenunddreißig Jahre, nachdem Israel die letzten der palästinensischen Territorien im Westjordanland und im Gaza-Streifen erobert hat, sind über dreieinhalb Millionen Palästinenser unter seiner Herrschaft in ihren Städten und Dörfern eingepfercht. Der Begriff des „palästinensischen Staates“ - der Jahre lang die Friedensoption verkörperte - wird von vielen israelischen Politikern als Verschleierungsformel benutzt, um über die Realität der Besatzung zu täuschen: „In Zukunft“, flüstern sie mit einem wissenden Augenzwinkern, „könnte man das palästinensische Gebilde in den Gebieten ruhig einen ’Staat’ nennen.“ Und unterdessen intensiviert Israel die Verwüstung des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens, ganz so, als sei es entschlossen, das palästinensische Volk in Grund und Boden zu stampfen, bis nichts mehr übrig bleibt.

Angesichts der breiten Front der Befürworter der Trennungsmauern - jener, die, seien sie nun politisch rechts oder links angesiedelt, durch die Dämonen der Demographie verschreckt sind, und ständig Volkszählungen durchführen, um sich zu vergewissern, wie viele Juden und wie viele Araber in der Woche geboren werden und sterben, wie viele Juden und wie viele Araber im ganzen Land und wie viele im jeweiligen eigenen Umkreis leben - ist es unerlässlich, eine alternative Sichtweise zu formulieren, die von folgenden Prinzipien ausgeht: Koexistenz der Völker in diesem Land, die auf gegenseitiger Anerkennung, gleichberechtigter Partnerschaft und der Implementierung historischer Gerechtigkeit beruht.

Uns verbindet unsere Kritik am Zionismus, insofern er darauf basiert, der eingeborenen Bevölkerung dieses Landes die Anerkennung zu verweigern und ihr ihre Rechte vorzuenthalten; insofern er auf der Enteignung ihres Landes und auf der Trennung als grundlegendes Prinzip und Lebensweise beruht. Indem Israel begangenem Unrecht noch die Missachtung hinzufügt, beharrt es auf seiner Weigerung, irgendeine Verantwortung für seine Taten zu übernehmen, angefangen bei der mehrheitlichen Vertreibung der Palästinenser aus ihrer Heimat vor über einem halben Jahrhundert bis hin zur gegenwärtigen Errichtung von Ghetto-Mauern um die verbliebenen Palästinenser in den Städten und Dörfern des Westjordanlandes.

Auf diese Weise wird, wo immer Araber und Jude zusammenstehen oder einander gegenübertreten, zwischen ihnen eine Grenze gezogen, die den Unterschied zwischen dem Gesegneten und dem Verdammten markiert und sie voneinander trennt.

Uns verbindet die Überzeugung, dass dieses Land allen seinen Söhnen und Töchtern gehört - Bürgern und Bewohnern, sowohl anwesenden wie abwesenden (den entwurzelten palästinensischen Bürgern von ’48) - ohne Unterschied, beruhe er auf persönlichen oder gemeinschaftlichen Merkmalen, unabhängig von der Staatsbürgerschaft oder Nationalität, der religiösen, kulturellen, ethnischen oder Geschlechtszugehörigkeit. Daher fordern wir die umgehende Annulierung aller Gesetze, Regelungen und Praktiken die zwischen jüdischen und arabischen Bürgern Israels unterscheiden, sowie die Auflösung aller Institutionen, Organisationen und Organe, die auf solchen Gesetzen, Regelungen und Praktiken beruhen.

Uns verbindet die Überzeugung, dass Frieden und Versöhnung von Israels Anerkennung seiner Verantwortung für das Unrecht abhängen, das der eingeborenen Bevölkerung, den Palästinensern, zugefügt wurde, und von der Bereitschaft zur Wiedergutmachung ihnen gegenüber. Die Anerkennung des Rückkehrrechts folgt aus unseren Prinzipien. Das fortdauernde Unrecht, das den palästinensischen Flüchtlingen Generation um Generation angetan wird, wieder gutzumachen, ist eine ebenso notwendige Bedingung für die Versöhnung mit dem palästinensischen Volk wie für unsere, der israelischen Juden spirituelle Heilung. Nur so werden wir die Heimsuchungen durch die Dämonen und die Verdammnisse der Vergangenheit loswerden und dazu kommen, in unserem gemeinsamen Heimatland zu Hause zu sein.

Seit vielen Jahren bereits haben sich israelische Führungspersönlichkeiten darin überboten, die Palästinenser als Wesen darzustellen, die sich nicht auf der Höhe des Menschlichen befinden; und sie sind in ihren Bemühungen von Mitgliedern der kulturellen Eliten, von Medien-Baronen, seichten Funktionären und Schreiberlingen der Rechten wie der Linken unterstützt und willig begleitet worden. Diese rassistische Arroganz weisen wir angewidert zurück, wohl wissend, dass die Palästinenser, wie alle anderen Menschen, weder Teufel noch Engel sind, sondern Menschen wie wir, als Gleiche geboren.

Wir sind überzeugt, dass wir, sobald wir auf den Frieden und die Versöhnung mit offenem Herzen und wirklicher Entschlossenheit zugehen, in ihnen das vorfinden, was wir ihnen entgegenbringen: ein offenes Herz und eine wirkliche Entschlossenheit. Denn wir sind Brüder und Schwestern, nicht, wie es die Brunnen-Vergifter glauben machen wollen, ewige Feinde.

Es ist sinnlos, sich zu diesem Zeitpunkt genau vorstellen zu wollen, wie sich die Vision eines Zusammenlebens materialisieren wird: in zwei Staaten oder einem?! vielleicht in einer Konföderation?! oder etwa in einer Föderation?! und wie wäre es mit Kantonen?! In jedem Fall versteht sich die erste Voraussetzung, um die Vision des Zusammenlebens voranzutreiben, von selbst, und zwar sowohl als oberste moralische Maxime, als auch als praktisches Anliegen: das umgehende Ende der Besatzung.

Nur so werden die Palästinenser in Ostjerusalem, dem Westjordanland und dem Gaza-Streifen das Joch der Siedlungen los, den Alptraum der Apartheid, die Last der Demütigung und die Dämonen der Zerstörung, mit denen Israel sie heimsucht, gnadenlos, Tag und Nacht, seit 37 Jahren. Erst wenn sie ganz frei sind, werden die Palästinenser in der Lage sein, über ihre Zukunft zu diskutieren und zu entscheiden.

Wir glauben, dass die Übernahme der oben dargelegten Prinzipien die Grundlagen schaffen werden, auf denen die Menschen in diesem Land den richtigen gemeinsamen Rahmen für ein Zusammenleben errichten können. Wir reden hier nicht von Phantasien oder einem Handstreich, der uns unversehens aus der Hölle in der wir leben, in ein himmlisches Paradies befördern würde.Wir sprechen über einen Weg, der bisher noch nicht begangen wurde: ehrlich mit uns selbst und mit unseren Nachbarn, vor allem mit dem palästinensischen Volk - unseren Feinden, die unsere Brüder uns Schwestern sind. Wenn wir auf unserer Seite die Ehrlichkeit, die angebracht ist, und den Mut, der erforderlich ist, aufbringen, wird es uns gelingen den ersten Schritt auf der langen Reise zu tun, die uns dem Knäuel aus Verleugnung, Unterdrückung, der Entstellung der Wirklichkeit, der Orientierungs- und Gewissenlosigkeit entreißt, in dem das Volk Israels seit Generationen gefangen ist.

Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, weiß, dass die Wahl besteht zwischen einerseits weiteren „hundert Jahren des Konflikts“ und andererseits einer Partnerschaft aller Bewohner dieses Landes. Nur eine solche Partnerschaft wird es uns, den Juden Israels, ermöglichen, uns von Fremden im eigenen Land in dessen wirkliche Bewohner zu verwandeln.

Wir beabsichtigen nicht, eine weitere Bewegung gegen die Besatzung ins Leben zu rufen oder eine Partei (Plattform, Institution, Führer). Worum es uns geht, ist die Initiierung einer echten öffentlichen Debatte über die israelische Sackgasse, in der wir leben, und die tiefgreifenden Veränderungen, derer es bedarf, um aus ihr auszubrechen. Jeder Israeli weiß, dass das nicht einer Sache politischer Belanglosigkeiten ist, sondern, dass es um das Schicksal der Völker dieses Landes geht.

(Giv’at Olga, 7/2004)