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Tageszeitung junge Welt

»Israel kennt keine Gleichheit«

01.07.2006 / Wochenendbeilage / Seite 1 (Beilage

Sonntag 2. Juli 2006

Gespräch mit Jonathan Cook. Über den jüdischen demokratischen Staat, der seine palästinensischen Bürger diskrimiert, die Neuerfindung der Besatzung, die absehbare Kassam-Intifada und die notwendige Überwindung des Zionismus

Jonathan Cook ist der erste ausländische Korrespondent mit Sitz in der israelisch-arabischen Stadt Nazareth in der Galiläa-Region. Seit September 2001 berichtet er von dort aus über den Nahen Osten. Sowohl geographisch als auch journalistisch gesehen, erlaube ihm diese Position eine größere Freiheit in der Bewertung der wahren Natur des Konflikts und seiner zugrunde liegenden Ursachen, erklärt Cook.

Jonathan Cook gründete im Februar 2004 die Nazareth Press Agency. Seine Artikel werden in zahlreichen Medien veröffentlicht: The Guardian, The Observer, The Times, Le Monde diplomatique, Al Dschasira, The Daily Star und Al Ahram Weekly. Bei Pluto Press ist nun sein Buch »Blood and Religion: The Unmasking of the Jewish and Democratic State« erschienen. Das Gespräch wurde vor der israelischen Invasion im Gazastreifen geführt.

Ihr Buch »Blood and Religion: The Unmasking of the Jewish and Democratic State«, das Sie kürzlich in Großbritannien vorgestellt haben und das in diesem Monat in den USA erscheint, wird von Nahost-Experten viel gepriesen. Warum muß der jüdische und demokratische Staat entlarvt werden?
Ich habe das Wort »entlarven« gewählt, weil das der Begriff ist, den Ehud Barak nach dem Scheitern der Camp-David-Verhandlungen im Juni 2000 auf Yassir Arafat anwendete. Barak sagte, er hätte den palästinensischen Führer entlarvt, daß er kein Partner für den Frieden sei. Doch das Gegenteil war der Fall: Das Scheitern von Camp David und Israels Reaktion während der zweiten Intifada stellten gerade jene bloß, die wie Barak behaupteten, Israel sei ein Partner für den Frieden.

Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern ist solange unüberbrückbar, wie Israels Selbstverständnis das eines »jüdischen und demokratischen Staates« ist. Das ist die Prämisse, auf der mein Buch beruht. Der jüdische und demokratische Mythos hält die Israelis davon ab, den im Wesentlichen zutiefst undemokratischen Charakter ihres Staates zu hinterfragen - von Sozialwissenschaftlern häufig auch als ethnischer Staat oder Ethnokratie bezeichnet - und davon, eine friedliche Lösung für den Konflikt mit den Palästinensern zu finden.

Wie demokratisch ist der jüdische Staat wirklich?
Die Idee, daß Israel einfach nur ein jüdischer Staat sei, erzeugt bei den meisten gebildeten Israelis Mißbehagen. Hört es sich doch ein bißchen zu sehr nach einem »afrikanischen Staat« oder einem »katholischen Staat« an. Daher fügt man dem gerne das Wort »demokratisch« hinzu, als eine Art von öffentlicher Aberkennung, ein Dementi sozusagen, daß Israel nur ein ethnischer oder religiöser Staat sei. Die jüdische und demokratische Idee ist höchst ausschlaggebend für Israel; sie ist beispielsweise der zentrale Grundsatz des Grundrechts der Freiheit und Menschenwürde von 1992, eine Art israelische »Bill of Rights«. Dieses Dokument, das Israel als einen jüdischen und demokratischen Staat definiert, schließt umgekehrt das Prinzip der Gleichheit aus. Aus diesem Grund glauben die meisten Israelis, daß der Begriff »Gleichheit« sich lediglich auf die Juden in Israel beziehe, und nicht auf die ein Fünftel israelischen Bürger palästinensischer Herkunft.

Diese sind die wenigen Hinterbliebenen einer palästinensischen Mehrheit, die einst Palästina bewohnte. Zwar haben sie die Staatsbürgerschaft erhalten, werden aber wie ein Abszeß in der israelischen Gesellschaft behandelt - und häufig auch als »Krebsgeschwür« bezeichnet. Israel hat jeden Versuch unterlassen, sie zu integrieren oder anzupassen. Warum? Weil sie als Nicht-Juden den jüdischen Staat gefährden. Also muß man sie, nunmehr Pseudobürger, von den anderen trennen und aussondern.

Mit anderen Worten: Das vorrangige Interesse Israels ist keineswegs, möglichst demokratisch zu sein, sondern möglichst jüdisch zu sein, um welchen Preis auch immer. Dies bestätigen auch Umfragen unter israelischen Juden, die zeigen, daß eine überwältigende Mehrheit die Idee, Israel könnte ein liberaler demokratischer Staat werden, ablehnt.

Während der israelische Premier Ehud Olmert wiederholt erklärt hatte, die israelische Regierung werde mit Hamas keine Gespräche führen, gelobte Verteidigungsminister Amir Peretz kürzlich, daß der jüdische Staat jede Anstrengung unternehmen werde, um mit den Palästinensern ein Friedensabkommen auszuhandeln, noch bevor man etwaige unilaterale Schritte zur Festlegung der Grenzen in der Westbank einleiten würde. Für wie vertrauenswürdig halten Sie solche Äußerungen?
Peretz ist der Chef der Arbeiterpartei. Sein Job in der Koalitionsregierung besteht darin, gegenüber den Palästinensern etwas versöhnlicher aufzutreten als der regierende rechte Flügel. So gesehen tritt Peretz in die Fußstapfen seines Vorgängers Schimon Peres. Als Parteiführer der Arbeiterpartei in der vorhergehenden Regierung sprach Peres ständig von Verhandlungen und Abkommen mit den Palästinensern, wurde dabei aber schlichtweg von Ariel Scharon ignoriert. Bedenken Sie, daß Peretz in dieser Sache keine Entscheidungen treffen kann. Die Bedingungen eines Vertrags werden- in Verhandlungen mit den USA - von Olmert und seinen Militärgenerälen entschieden. Daher will er freie Hand, um seine wichtigste taktische Initiative, den Konvergenzplan, umsetzen zu können.

Die Frage geht aber auch von einer falschen Annahme aus. Olmert ist nicht im Begriff zu entscheiden, wie er künftig am besten vorgehen soll - unilateral oder multilateral. Er weiß bereits, daß er unilateral vorgehen wird und sucht nach Möglichkeiten für einen geeigneten Anfang. Die hauptsächliche potentielle Hürde für den Plan sind nicht die Palästinenser, sondern die Amerikaner. Daß die Palästinenser seinen Bedingungen nicht zustimmen werden - es sind nahezu dieselben, mit denen Barak nach Camp David kam-, weiß Olmert längst. Niemals würden sie der Annexion Ost-Jerusalems und der heiligen Stätten zustimmen, niemals würden sie akzeptieren, daß die Siedlungen weiterhin in der Westbank verbleiben und niemals würden sie einen Staat befürworten, der in eine ganze Reihe von abgeschlossenen Ghettos zerlegt ist - Gaza, die palästinensischen Nachbarschaften in Ost-Jerusalem, die drei oder vier Enklaven in der Westbank und die isolierten palästinensischen Gemeinden in Israel. Aus dieser Perspektive hat es also überhaupt keinen Zweck, nach einer Einigung zu streben. Was Olmert braucht und was er scheinbar auch erreicht, ist Amerikas Segen für diesen Diebstahl palästinensischen Landes und der Zerstörung ihrer nationalen Ambitionen.

Sie sprechen in Ihrem Buch von der »gläsernen Mauer«. Was genau meinen Sie damit?
Schon immer hat Israel versucht, Juden und Palästinenser in Israel und den besetzten Gebieten zu trennen und war lange erfolgreich, diese Trennung vor der Welt nicht sichtbar werden zu lassen. Die Trennmauern existierten, aber man konnte sie nicht sehen. Ich nenne das »gläserne Mauer«. In den besetzten Gebieten beispielsweise lebten jüdische Siedler neben palästinensischen Gemeinden. Man hätte meinen können, daß sie gewöhnliche Nachbarn wären. Aber in Wirklichkeit genossen die Siedler alle Vorteile des israelischen Zivilrechts, sowohl in den besetzten Gebieten als auch in Israel selbst, während für die Palästinenser ein weniger gütiges Militärgesetz vorgesehen war. Die Juden konnten sich im Land unbehindert fortbewegen, Palästinenser nicht. Die Siedler erhielten Wasservorräte, für Palästinenser wurde Wasser erheblich rationiert.

Dies alles begann in den späten 1980er Jahren in den besetzten Gebieten zu bröckeln, als die Palästinenser sich weigerten, ihr Leben und das Bild der besetzten Gebiete weiterhin von Israel bestimmen zu lassen. Die erste Intifada zwang Israel dazu, die gläsernen Mauern in solche aus Stahl und Beton umzuwandeln: Zunächst wurde der Gazastreifen von Israel abgeriegelt und jetzt geschieht das Gleiche in der Westbank. Das war ein erheblicher Ansehensverlust für den jüdischen und demokratischen Staat Israel, und die politische Führung hat sich verzweifelt um Wiederherstellung bemüht. »Convergence«, Zusammenführung, ist der Schlüssel zum Erfolg. Wenn Israel den Anschein eines palästinensischen Staates inszenieren kann, ohne daß tatsächlich ein solcher existiert, dann errichtet es wieder einmal gläserne Mauern und vertuscht damit die realen Mauern aus Beton und Stahl, die die Westbank und Gaza abriegeln.

Welche Absichten verfolgt Olmert also mit den angekündigten Zusammenführungsplänen?
Sagen wir es deutlich: Olmert geht es nicht um Rückzug. Im Hebräischen wird von »hitkansut« gesprochen. Im Englischen heißt das soviel wie »convergence«, deutsch: »Zusammenführung«. Es gibt einige wesentliche Unterschiede zum Rückzug aus dem Gazastreifen im letzten Jahr. Aus diesem Grund hat Olmert sich auch für einen anderen Begriff entschieden. Bei diesem Plan geht es im Grunde darum, die israelische jüdische Bevölkerung überall dort zusammenzuführen, wo sie sich über vier Dekaden der Besatzung verschanzt hat, einschließlich der Mehrheit von 430000 Siedlern, die auf palästinensischem Boden in der Westbank und in Ost-Jerusalem leben. Beide Gebiete wurden 1967 von Israel besetzt. Nur eine geringe Anzahl von ihnen - vielleicht 60000 Siedler, vielleicht auch weniger - werden umziehen und ihre Häuser verlassen müssen. Vor allem jene, die in abgelegenen, isolierten Siedlungen leben. Sie werden in den großen Siedlungsblöcken, jene langen »Finger«, die tief in die Westbank hineinreichen und diese in voneinander abgetrennte Kantone oder Ghettos teilen, übergesiedelt.

Darüber hinaus ist die Konsolidierung des Jordantals im Gespräch - jene lange Flanke der Westbank, die die Grenze zu Jordanien bildet. Falls Israel das Jordantal in die Zusammenführungspläne einbeziehen sollte, was derzeit ganz danach aussieht, dann sprechen wir von rund 40 Prozent der Westbank, die für die Palästinenser unerreichbar werden. Und selbst wenn den Palästinensern die gesamte Westbank und Gaza zugestanden würde, hätten sie damit doch nur 22 Prozent ihres ursprünglichen, historischen Heimatlandes. Verabschieden wir uns daher erst einmal von dem Mythos, Israel ziehe sich aus der Westbank zurück.

Israel und die internationale Gemeinschaft werden nach der Zusammenführung behaupten, daß die Besatzung beendet sei. Aber schauen Sie die Fakten an: Wenn Israel die Ostflanke der Westbank, die lange Grenze zu Jordanien, kontrolliert und eine Reihe von Siedlungsblöcken hinter einer »Sicherheitsmauer«, die die Westbank an ihrer westlichen Flanke in wenigstens drei strategische Punkte zerlegt, wie sollte man da von einem Ende der Besatzung sprechen? Wer wird die Grenzen kontrollieren und die Bewegungen außerhalb und zwischen diesen Kantonen? Israel, das zweifellos auch die Checkpoints und Grenzkontrollsysteme, die es in den 1990er Jahren entwickelt hat, weiter betreiben wird. Wer wird die knappen Wasserressourcen kontrollieren? Israel, denn die Siedlerblöcke sind über den Hauptgrundwasserleitungen errichtet. Wer wird solche Leistungen wie die Elektrizität- und Wasserversorgung bereitstellen? Israel, das die Versorgung und Einbehaltung dieser Dienste als Form einer kollektiven Bestrafung regulieren kann. Wer wird den Luftraum kontrollieren, einschließlich der Flüge in und aus der Westbank? Wieder Israel, das auch die Radiofrequenzen kontrolliert. Und natürlich werden die Palästinenser keine eigene Armee haben können. Wir sprechen hier also von einer Wiedererfindung der Besatzung. Es ist wie mit einem Gefängnis, das aufgrund von technologischen Entwicklungen keine leibhaftigen Wächter mehr benötigt. Statt dessen bewachen Kameras die Eingänge der Zellen, und Roboter bringen den Häftlingen das Essen. Würden wir deshalb behaupten, daß eine solche Einrichtung kein Gefängnis mehr sei?

Israelische Friedensaktivisten wie Jeff Halper vom israelischen Komitee gegen den Häuserabriß haben die »Zwei-Staaten-Lösung« inzwischen für politisch tot erklärt. Würden Sie diese Einschätzung als zu pessimistisch bewerten?
Nein, ganz und gar nicht. Die »Zwei-Staaten-Lösung« war vor Jahren schon tot. Nur hat das die internationale Gemeinschaft nicht erkannt oder war zu ängstlich, es einzugestehen. Es gibt klare Gründe, warum Israel sich vor einer Zwei-Staaten-Lösung fürchtet. Man erinnere sich, daß Barak und Scharon grundlegend gegen die Oslo-Vereinbarungen waren, weil sie diese unter der Regierung von Yassir Arafat und der palästinensischen Autonomiebehörde als Möglichkeit für einen proto-palästinensischen Staat in der Westbank und in Gaza sahen. Sie befürchteten, daß die palästinensische Führung ihre Rechte nicht nur im palästinensischem Staat, sondern auch in Israel geltend machen könnte, mit Hilfe der »subversiven palästinensischen Bürger Israels«.

Es gab bereits unzählige Ansätze und Vereinbarungen zur Beendigung des Konflikts. Aber alle sind fehlgeschlagen. Was sind die Gründe für das permanente Scheitern?
Der Grund für das permanente Scheitern liegt in der Annahme, daß Israel mit gutem Willen in den Friedensverhandlungen agiert. Aber wie ich bereits erklärte, ist das nicht der Fall. Israel will keinen palästinensischen Staat und jede Vereinbarung, die in dieser Hinsicht Vorbedingungen setzt, wie beispielsweise die Roadmap, wird Israel entweder ablehnen oder manipulieren, so daß die Abmachung praktisch wertlos wird.

Letztendlich, so lautet Ihre Prognose, wird es in absehbarer Zeit eine dritte, »weitaus tödlichere Intifada« geben.
Vladimir Jabotinsky, der frühe Führer des revisionistischen Zionismus, prägte den Begriff der »eisernen Mauer«, womit die unermüdliche Ausübung von Druck auf die palästinensische Bevölkerung gemeint war, von der er annahm, daß sie sich niemals der nationalen Enteignung und Versklavung unterwerfen würde. Er hatte Recht, die Palästinenser würden sich nicht freiwillig beugen. Aber er war zu optimistisch, was die einfache Ausübung von Druckmitteln betraf. Man kann die Leute nicht erst bestehlen und sie wegsperren, wenn sie ihr Eigentum zurückverlangen - und dabei noch erwarten, daß sie sich für immer still verhalten. Israel kann die Palästinenser in Ghettos sperren, aber das wird sie nicht auf ewig im Zaum halten. Früher oder später werden sie einen Weg finden, zurückzuschlagen, auch hinter ihren Mauern. Ich denke, daß die nächste Intifada die »Kassam-Intifada« genannt wird - nach den selbstgebauten Raketen, die die Palästinenser aus dem Gazastreifen abfeuern, um damit israelische Häuser zu treffen. Wir werden künftig mehr dieser Art Widerstand zu sehen bekommen.

Was wären die Voraussetzungen auf beiden Seiten zur Beendigung des Konflikts und für einen gerechten und dauerhaften Frieden?
Um ganz ehrlich zu sein: nichts weniger als die Abschaffung des Zionismus als Israels nationaler Ideologie. Ein zionistischer Staat, der sich dem Frieden mit den Palästinensern verpflichtet, ist unter den gegenwärtigen Umständen genauso undenkbar wie ein südafrikanisches Apartheidregime, das sich um ein friedliches Zusammenleben mit der einheimischen schwarzen Bevölkerung bemüht. Vielleicht wäre der Zionismus zu einem früheren Zeitpunkt durchaus fähig dazu gewesen, aber der heutige jüdische Staat ist nicht in der Lage, ein Friedensabkommen mit den Palästinensern auszuhandeln, nicht bevor er den Zionismus aufgibt oder zur Aufgabe gezwungen wird.

Das Gespräch führte Andrea Bistrich